Fotografien der Vertreibung und Masakrierung der alevitischen Bevölkerung in Dersim 1937/38

Die alevitisch, kurdische Bevökerung suchte 1937/38 Schutz in den Höhlen Dersims, wo sie aber vom Militär erschossen, erstochen und vergast wurden.

Seyit Riza wird verhaftet. Um ihn zu entwürdigen, nahm man ihm seine traditionelle Kleidung ab und steckte ihn in einen 'westlichen' Anzug.
Dann wurde er erhängt.

Dersim umfasst das Quellgebirge von Euphrat und Tigris. «Dersim» bedeutet «das silberne Tor»: Die Berglandschaft ist reich an Wasser, Holz und vielen Rohstoffen wie Eisen, Kupfer, Gold, Silber und Öl. Heute wird das Gebiet offiziell von den türkischen Behörden «Tuncelli» genannt. Dies bedeutet wiederum «eiserne Faust».
 
1_RELIGION
Die in der Region Dersim beheimateten Halbnomaden lebten lange Zeit ein pantheistisch, animistisches Weltbild, bei dem sie von einer göttlichen Energie ausgingen, die in allem enthalten ist. Die Sonne war ihr Sinnbild für diese universelle Energie, aus der einst alles Leben erschaffen wurde. Sie verstanden sich als Aleviten, wobei Alevismus vom Wort «Alev» abgeleitet wurde und «Flamme» bedeutet. Je nach Einflussgebiet wurden sie von weiteren unterschiedlichen Glaubensauffassungen mitgeprägt. Eine wichtige Bedeutung hatte hier die Lehre Zarathustras, eines Wanderpredigers der im 2. Jahrtausend vor Christus in den Gebieten Kleinasiens und Persiens lehrte. In der Lehre Zarathustras standen keine Götter oder gottähnliche Sultane über dem Menschen, die deren Entscheidungen fällen und deren Schicksal lenken. Das Göttliche sei in jedem Lebewesen selbst enthalten. Im Mann als auch in der Frau, welche, dieser Lehre entsprechend beide gleichberechtigte Mitglieder der Gemeinschaft sein sollten. Die zoroastrische Lehre sagt zudem weiter; da der Mensch über ein Bewusstsein verfüge, sei er für sein Schicksal selbstverantwortlich. Diese Philosophie wirkte damals wie heute subversiv und revolutionär, denn sie unterwanderte hierarchische Strukturen in Gesellschaft und Religion. Diese Philosophie sprach jedem «einfachen» Menschen volle Souveränität zu. Diese alten Lebensphilosophien prägen noch heute die Spiritualität und Lebenseinstellung der Menschen aus Dersim, welche zur restlichen, meist muslimisch-konservativen Gesellschaft der Türkei stark kontrastiert.
So gilt noch heute das Gebiet Dersim’s als die einzige Region der Türkei, in welcher die Einheimischen sich zum grössten Teil nicht dem Islam zugehörig fühlen, sondern eben dem Alevitischen Glaubensbekenntnis. Heute erklingt zwar auch über Dersim Stadt mehrmals täglich der Ruf des Muezin‘s, doch nach Aussagen Einheimischer, sind es vor allem die hier stationierten Soldaten der Türkischen Armee und die Türkischen Beamten, welche die Moscheen besuchen. Die Einheimischen haben ihre Cem, Gemeindezentren in den sie sich treffen, Rat halten und ihre spirituelle Gemeinschaft pflegen.

2_GESCHICHTE
Zu Beginn des 19.Jahrhunderts wurde eine Reformphase eingeleitet unter der Regierungszeit der Sultane Abdülmecid und Abdülaziz, bei der alle Untertanen gleichberechtigt sein sollten, egal welcher Religion sie angehörten. Die Türkei versuchte sich nach westlichem Vorbild zu entwickeln, orientierte sich Richtung Europa, begab sich aber gleichzeitig in wirtschaftliche und militärstrategische Abhängigkeiten gegenüber den europäischen Grossmächten. Diese schickten christliche Missionare nach Anatolien, um Spitäler, Schulen und Kirchen aufzubauen. Dadurch versuchten die Europäischen Nationen ihren Einfluss in diesen Gebieten zu festigen.
Die fortschreitende Christianisierung und Verwestlichung war Sultan Hamid Ende des 19. Jh. jedoch zunehmend ein Dorn im Auge – er fürchtete den Verlust von Einfluss und Macht. Um eine direkte Konfrontation mit dem Westen zu vermeiden, machte er vordergründig die christlichen Armenier für die Veränderungen in Anatolien verantwortlich. Damit begann die Vertreibung und spätere Vernichtung der Armenier in der Türkei. So gelang es ihm, alle Christen in diesem Gebiet einzuschüchtern. Um auch die nicht-muslimischen Aleviten wieder unter seine Kontrolle zu bringen, welche bis anhin mit den Christen und den Armeniern in Anatolien friedlich koexistiert hatten, begann Sultan Hamid sie systematisch in den Militärdienst einzuziehen und sie in den Kasernen zu islamisieren. Mit Hilfe von gefälschten Dokumenten wurde ihnen glauben gemacht, dass ihre Stämme von Ali, dem Schwiegersohn Mohammeds, abstammten und dass der Alevismus vom Wort «Ali» herrühre. Deshalb leben heute fast alle Aleviten – ausgenommen jene aus der Provinz Dersim – eine liberale Form eines schiitischen Islam.


 


Die junge, türkischen Republik wollte Ende der 30er Jahre ihre nationalistische Herrschaft in den armenischen und kurdisch-alevitischen Gebieten durchsetzen. Allen Stämmen soll durch Aufteilung und Umsiedlung ihre Identität geraubt werden.
Zelihas Grossvater, Seyit Riza, lehnte sich gegen diese Vertreibung auf. Er vereinte einen grossen Teil der Stämme für den Widerstand.
 Seyit Riza wurde von der türkischen Regierung zu einer diplomatischen Aussprache eingeladen. Statt des Ministers warteten jedoch ein Justizbeamter und der Henker auf ihn. Nach Seyit Riza’s Tod gab Atatük den Befehl zur Vernichtung der Bevölkerung Dersims.

Als sich die Stämme 1937/38 nicht vertreiben und vernichten liessen, entschloss sich die Türkische Regierung für eine gezielte Hinrichtung der Bevölkerung von Dersim durch den Abwurf von Giftgasbomben. Befohlen wurden diese Angriffe vom Begründer der ‚Modernen Türkei‘ : Kemal Atatürk. Diese militärischen Offensive wurde zynischerweise mit einem weiteren Ereignis gekoppelt: Die Adoptivtochter Kemal Atatürk‘s , Sabiha Gökcen war die erste Pilotin im modernen Türkischen Staat und die erste Kampfpilotin der Welt überhaupt. Sie war ein Vorbild für alle sekulären, modernen Frauen jener Zeit, nicht nur in der Türkei. Atatürk liess sie diesen grausamen Kampfzug anzuführen!

Bei den Bombardierungen und Giftgasangriffen, Massakern und den Todesmärschen in die Wüste nach Syrien wurden über 10’000 Zivilisten umgebracht. Manche sprechen sogar von 80’000. Genaue Zahlen gibt es keine. Dieser Genozid fand in den Jahren 1937/38 statt und ist im Westen kaum bekannt. Damals wurde die Region des «silbernen Tor's» von der türkischen Regierung von «Dersim» umbenannt in «Tunceli», was auf türkisch «die eiserne Faust» bedeutet.

Noch heute fragen sich die Bewohner Dersims immer wieder, weshalb sich die Türkische Regierung so viel Mühe macht, sie aus dieser Region zu vertreiben.
Eine mündliche Überlieferung hat folgende Erklärung: Um die Staatsschulden der Türkei zu tilgen, versprach Kemal Atatürk 1937 das gesamte Eisenvorkommen Dersim‘s an Hitlerdeutschland zu liefern, welches sich damals auf den Krieg vorbereitete. Um das Erz vor Ort aufzubereiten, plante Atatürk, die Wälder dieser Region für das Brennholz der Hochöfen zu roden. Das gesamte Bergvolk sollte deshalb ‚umgesiedelt‘ werden. - Jedenfalls zeugen Deutsche Bahnlinien und Brücken von der Präsenz der Deutschen in diesem Zeitraum.

Seit diesem traumatischen kollektiven Ereignis von 1937/38 wird den Kurden das Leben in ihrer Heimat schwer gemacht. Aber auch die anderen ethnischen Minderheiten (Araber, Griechen, Armenier, Schiiten, Aleviten, Christen, Juden) hatten unter der Durchsetzung einheitlicher nationaler Interessen der Türkei zu leiden.
Es wurde ihnen verboten, ihre Sprachen zu sprechen, ihre Mythen und Lieder weiterzugeben, ihre Religionen zu praktizieren. Es war auch verboten, über den Genozid von 1937/38 zu sprechen. Jahrzehntelang hatte die Türkei gegenüber den Minderheiten eine massive Assimilierungspolitik betrieben, welche die Verleugnung der eigenen Herkunft forderte.

Im Zuge dieser Repressionen begann die PKK 1984 den bewaffneten Kampf für ein unabhängiges Kurdistan. In der Türkei gilt noch heute: Nur wer sich assimiliert, seine Herkunft ganz ablegt, sich Türke nennt und sich zum Islam bekennt, hat eine Chance, dass seine Kinder in der Türkei eine berufliche und gesellschaftliche Zukunft haben.

3_HEUTIGE SITUATION IN DERSIM

Dersim-Aleviten sind stolz auf ihr Bergland und ihre alte, teilweise aufgeschlossene Kultur. Und sie sind sehr stolz, dass sie als einzige Region der Türkei noch nicht gänzlich islamisiert wurden. Mit allen Mitteln versuchen sie sich gegen die Vereinnahmung durch den Islam und die Osmanisierung zu wehren, indem sie ihre eher freigeistige Lebenseinstellung im Alltag umzusetzen versuchen. Diese Haltung fordert jedoch ihren Tribut:

Seit Generationen sind sie zerrissen zwischen Widerstand und erzwungener Anpassung. Die Menschen in Dersim führen ein einfaches, karges Leben - meist als Kleinbauern. Fast ausschliesslich von den kleinen Erträgen eines Gartens oder Ackers lebend, wissen sie nie, wann dieser von der Regierung enteignet wird oder ihr Dorf für ein wirtschaftlich unrentables Staudammprojekt geflutet wird. Projekte, welche kaum Energie erzeugen, jedoch den Lebensraum und die Dörfer an den fruchtbaren Ufern der Flüsse wirkungsvoll vernichtet. 

Dersim ist mit seinen Rohstoffen eine riesige Schatzkammer. Und geostrategisch ist das Gebiet für die Türkei von besonderem Wert: In seinen Bergen entspringen die Quellflüsse von Euphrat und Tigris. Wer das Wasser dieser beiden Ströme lenkt und kontrolliert verfügt über ein immenses Druckmittel gegenüber den angrenzenden Staaten Syrien und Irak.

4_DIE AKTUELLE POLITISCHE LAGE

Nachdem Recep Tayyip Erdogan 2003 Ministerpräsident wurde, versprach er, den Kurdenkonflikt zu lösen: Die von der AKP geführte Regierung setzte die unter Ecevit begonnenen umfassenden Reformen im Zivilrecht fort, die die Menschen- und Freiheitsrechte, sowie die kulturellen Freiheiten der kurdischen Minderheit stärkten. Der Gebrauch der kurdischen Sprachen ist heute nicht mehr verboten. Trotz dieser politischen Erfolge gibt es weiterhin Menschen-rechtsverstösse (Folter und Beschneidung der demokratischen Rechte), alles Nicht-Türkische oder Nicht-Sunnitische wird zwar geduldet, gilt jedoch als minderwertig. 

Die aktuelle politische Lage in Ostanatolien ist zurzeit instabil. Im Sommer 2015 verhinderte der Wahlerfolg der HDP (Demokratische Partei der Völker) das absolute Mehr von Erdogans Partei, der AKP, im Nationalen Parlament. Damals brach Erdogan den Friedensprozess mit den Kurden und der PKK ab. Er schürte wieder den Bürgerkrieg, um den Ruf nach (s)einer starken Hand zu provozieren. Die HDP wird vorwiegend von Kurden unterstützt, stellt anteils-mässig gleich viele Kandidaten aller Ethnien und Glaubenszugehörigkeiten und gleich viele Männer wie Frauen zur Wahl. Sie wurde in der Türkei zu einer wichtigen Sammelpartei der Minderheiten und der Opposition. Vor allem in Dersim, aber auch in den anderen Regionen der östlichen Türkei wird die HDP von einer Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. Deshalb wurden besonders hier die alten massiven Repressionen wieder eingeführt. Wieder erinnert sich die kurdische Bevölkerung mit Angst und Schrecken an die gewaltsame Zeit der späten 1980er und der 1990er Jahre.

Erdogan fürchtete die internationale Beachtung der kurdischen Widerstandsgruppen, welche in Syrien und im Irak gegen den IS kämpften – und das damit verbundene internationale Ansehen. Obwohl die PKK im Rahmen der Friedensverhandlungen den Waffenstillstand gegen die türkische Regierung jahrelang eingehalten hatte, erklärt Erdogan ihnen unter dem Deckmantel der IS- und Terrorismus-Bekämpfung den Krieg. In den Berggebieten Dersims wurden die Dörfer von der Regierung wieder mit Bomben ‹gesäubert›, angeblich wegen versteckter PKK-Mitglieder. Die meisten der vom Volk legal gewählten HDP-ParlamentarierInnen sind wegen mutmasslicher Unterstützung der PKK angeklagt oder in Haft. Auch deren erfolgreiche Co-Vorsitzende Selahattin Demirtas sitzt seit November 2016 in Untersuchungshaft. Er war einer der drei Kantidaten welche im Präsidentschaftswahlkampf 2014 gegen Erdogan antraten. Auf diese Weise baute Erdogan seine Macht im Parlament wieder aus. So gelang es ihm u.a. das Präsidialsystem durchzusetzen, gegen welches sich die Vertreter*innen der HDP stellten. Erdogans AKP versucht ihre rechtskonservativen islamischen Werte in den türkischen Grundgesetzen zu verankern, wodurch die Andersgläubigen massiv unter Druck geraten.

Dersim und viele weitere Kurdengebiete in Ostanatolien sind somit von den wieder entflammten Repressionen stark betroffen. Wegen des Ausnahmezustandes, der immer wieder ausgerufen wird, herrscht grosse Unsicherheit in der Bergbevölkerung. Immer wieder werden sie aufgefordert, ihre Höfe auf dem Land und in den Bergen zu räumen. Meist finden sie bei Verwandten in den Grossstadtagglomerationen eine Notunterkunft. Nebst der politischen Dimension gilt ihre Sorge dabei auch ihren Tieren und Feldern, die nicht mehr versorgt bzw. bestellt werden können. Diese Politik ist nach wie vor ‚Programm‘ und geht einher mit weiteren willkürlichen Entscheidungen der Regierung, welche den Kleinbauern und Halbnomaden der Region eine Existenz als solche verunmöglichen. Zermürbt geben diese nach und nach ihre Heimat auf und suchen ihr Glück in der Diaspora.


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Am 1.12.2019 strahlte das Erste Deustche Fernsehen einen kurzen Beitrag in der Sendung "titel thesen temperamente" aus_Thema: Der Genozid von 1937/38 an den alevitischen Kurden in Dersim_zum Beitrag gehts hier: